Ausstellungsdauer: 13.9.2012–26.10.2012

Research – Wirklichkeit als Material

kuratiert von Sabine Winkler

Beteiligte KünstlerInnen:

Ausstellungsort: ratskeller – Galerie für zeitgenössische Kunst
Möllendorffstraße 6, 10367 Berlin
Öffnungszeiten: Mo – Fr 10 – 18 Uhr

Abstract

In der Ausstellung „Research – Wirklichkeit als Material” wird die Frage nach künstlerischer Forschung und recherchebasierter Produktionsweise im Hinblick auf die Fotografie gestellt. Wie unterscheiden sich dokumentarische und journalistische Fotografie von Fotografie, die auf künstlerischer Forschung basiert? Was ist der Stellenwert von For­schung innerhalb der Fotografie? Wie wird Fotografie in künstlerischer Forschung eingesetzt und wo stößt sie auf ihre Grenzen innerhalb der Darstellung komplexer Zusammenhänge? Welche Rolle spielt Realität als Ausgangsbasis – werden fiktive Elemente integriert, gibt es produktions­technisch gesehen Bezüge und Überschneid­ungen mit der Herstellung von Texten und Filmen? Die Ausstellung beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wissensproduktion und Ästhetik, mit „Poetologien des Wissens”, wie Joseph Vogl das nennt. Kann und soll Fotografie Wissen transportieren oder wird Wissen als kunstimmanenter bzw. ästhetischer Bestandteil künstler­ischer Produktion vorausgesetzt? Und inwieweit wurde und wird Fotografie als Instrument zur Repräsentation von Herrschaftsgeschichte eingesetzt, um Wahr­nehmungsstrukturen und Sichtweisen zu prägen? In der Ausstellung werden diese unterschiedlichen Fragestellungen thematisiert und die fotografische Darstellung in der Konstruktion und Produktion von historischem, anthropologischem und politischem Wissen und seiner Repräsentation untersucht. Die Erforschung und Reflexion systemischer Verhältnisse, die Kontextualisierung der Rechercheergebnisse bzw. Forschungs­methoden sind Teil der künstlerischen Praxis, um differenzierte Sichtweisen und Möglichkeiten der Veränderung aufzuzeigen. Wirklichkeit fungiert als Material, wird analysiert und erforscht, um durch Wissens­produktion künstlerische Prozesse zu generieren und Realität und ihre Darstellungsformen durch Kontextualisierung zu überprüfen. Differenziert werden die unterschiedlichen Darstellungsformen von Wissen, ihre unterschiedlichen Möglichkeiten der Repräsentation. 

Entstehen können fiktionalisierte und poetische Versionen von Wissen, Diskurs, Kritik und Erkenntnis, die Wirklichkeit unter dem Aspekt von Gegenwissen konstruieren. Welche Stellung nimmt nun künstlerische Forschung zu Wissenschaft und zu Wirklichkeit ein? Interessant scheint hier, dass beide Bereiche, Wissenschaft und Wirklichkeit auch als Bedrohung für die Kunst gesehen werden. Was sind die Möglichkeiten von Kunst in diesem Spannungsfeld von Wirklichkeit und Wissenschaft? Soll Kunst Wirklichkeit abbilden, in die Wirklichkeit eingreifen, Wirklichkeit sichtbar machen oder verändern? Kann das u.a. mittels künstlerischer Forschung erreicht werden? Wird alternatives Wissen immer notwendiger, um zu erkennen, was wirklich ist? Und was ist die Rolle der Fotografie in diesem Kontext? Welche Aussagen macht sie, wer spricht bzw. wer fotografiert und in welchem Kontext wird ein Foto gezeigt? Inwieweit können fotografische Serien komplexe Geschichten darstellen und wo sind ihre narrativen Grenzen? Das Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit hat sich wesentlich verändert: Die Selbstverständlichkeit der Beweisführung von Wirklichkeit durch die Fotografie ist verschwunden, sie wurde durch die digitalen Möglichkeiten dekonstruiert und der spekulative Faktor von Fotografie wurde sichtbarer. Fotografie erzeugte immer schon spekulative oder vorsätzliche Wirklichkeiten des Imaginären, ebenso wie Wirklichkeiten des Realen. Die Differenz bleibt manchmal unklar, die Intention erschließt sich nach und nach. In welchen Kontexten verfälscht Fotografie die Wirklichkeit, wann bildet sie sie ab und wann konstruiert sie Wirklichkeit? Welche Fotos werden veröffentlicht und welche nicht? Die künstlerischen Positionen erforschen historische und aktuelle Wirklichkeitsbezüge in der Fotografie auf imaginärer, symbolischer und realer Ebene. 

Zachary Formwalt recherchiert den Kontext der ersten in einer Zeitung maschinell abgedruckten Fotografie und untersucht deren textunabhängige Positionierung im „The Daily Graphic” vom 4. März 1889, sowie die Bewertung in der Fotografie- und Stadtentwicklungsgeschichte. Goran Galić & Gian-Reto Gredig forschten im Umfeld internationaler Kriegsfotografen, interviewten sie über ihre Arbeitsbedingungen, Erfahrungen und Sichtweisen. In ihren beiden Videofilmen „Publish or perish” und „Der Kamera-Mann” werden die recherchetreibenden Fotojournalisten zum Objekt der Recherche. Erik Göngrich beschäftigt sich mit den durch Fotografien reproduzierten Missverständnissen im Kontext von architektonischen, städtebaulichen Entwicklungsprozessen. Bettina Lockemanns Versuch, Arbeitsweisen von EU-Parlamentariern in Brüssel fotografisch sichtbar zu machen, scheiterte: sie musste feststellen, dass die bürokratischen und politischen Strukturen auch vor Ort undurchsichtig bleiben, nicht abbildbar sind. Sie setzte die Intransparenz komplexer parlamentarischer Arbeitsweisen atmosphärisch um und schafft ein fiktives Protokoll parlamentarischer Wirklichkeit. Ulrike Ludwig zeigt Fotos einer Erdbeerzucht am Bodensee und erforscht die Diskrepanz von hoch technologisierten Herstellungsprozessen und den mit Erdbeeren in Verbindung stehenden sinnlichen und erotischen Phantasmen. Vladimir Mitrev animiert zwei Fotos von Roger Fenton, die dieser während des Krimkrieges gemacht hat. Ein Foto zeigt einen Weg mit und eines einen ohne Kanonenkugeln. In seinem Video lässt Vladimir Mitrev die Kugeln aus dem Bildhintergrund nach vorne rollen, so dass sie die im zweiten Foto abgebildete Position einnehmen. Er verweist auf Inszenierungsprozesse und deren Bezug zur Wirklichkeit zu Beginn der Kriegsfotografie um 1853. Karina Nimmerfall recherchierte über soziale Wohnbauprojekte von Richard Neutra in Los Angeles in den 1940er Jahren. In ihrer Fotoserie „Index of Livability”  zeigt sie Auswirkungen des politischen Wandels auf städtebauliche Transformationsprozesse und verweist auf die unterschiedlichen Vorstellungen eines besseren Lebens und deren ideologische Manifestationen in der Architektur der Wohnprojekte. Elisabeth Schmirl recherchiert in digitalen Archiven nach weiblichen Posen der Fremd- und Selbstdarstellung auf historischen und aktuellen Fotografien. Sie analysiert weibliche Darstellungsformen, Inszenierungen und Maskeraden zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Judith Siegmund fotografierte Orte der Erinnerung aus ihrer Kindheit in Rostock und stellte dem fotografischen Bild ein sprachliches Erinnerungsbild bei. Transformationsprozesse und der visuelle Wandel, gestützt durch den Wandel der Ideologien werden in dieser zeitlichen Distanz, die der subjektive Blick der Erinnerung schafft, sichtbar. Victoria Tomaschko fotografierte in Plattenbausiedlungen, im Norden von Rostock, um verdrängte aber dennoch vorhandene Auswirkungen der Ereignisse vom August 1992 in Lichtenhagen zu erforschen. Vor 20 Jahren griffen Rechtsextreme die Zentrale Aufnahmestelle für Asylwerber im Sonnen­blumenhaus an, Schaulustige klatschten und behinderten den Polizeieinsatz. Wie prägen diese Ereignisse das heutige Leben im Norden von Rostock?